Leseprobe – Kapitel 1
Kapitel 1 — Ein Abend in der Baker Street
Es war bereits später Nachmittag, als ich erschöpft und mit knurrendem Magen die Stufen der Baker Street hinaufstieg. Der Hausbesuch, den ich einem alten Freund abgestattet hatte, war zwar eine willkommene Abwechslung vom Alltag, doch hatte er mir mehr Zeit geraubt, als ich geplant hatte. Nun sehnte ich mich nach nichts mehr, als nach einer kräftigen Mahlzeit und der behaglichen Wärme unseres Heims.
Kaum hatte ich die Haustür geöffnet, da trat mir Mrs. Hudson im Flur entgegen. Sie trug eine frisch gestärkte Schürze und ein Lächeln, das mir verriet, dass sie gerade in der Küche beschäftigt gewesen war.
„Ah, Mrs. Hudson!“, rief ich, während ich Hut und Mantel ablegte. „Sagen Sie, was gibt es heute Feines? Ich könnte wahrlich ein Festmahl vertragen, so leer wie mein Magen ist.“
Die gute Frau legte die Hände in die Hüften und lachte leise. „Ach, Herr Doktor Watson, Sie kommen mir gerade recht. Keine Sorge – ich weiß doch genau, was Sie gerne mögen. Und ich darf Ihnen versprechen: Heute steht eines Ihrer Leibgerichte auf dem Tisch.“
„Wirklich?“, fragte ich erwartungsvoll. „Und welches?“
„Geduld, Herr Doktor, Geduld!“, erwiderte sie schmunzelnd. „Lassen Sie sich überraschen. Wir warten nur noch auf Mr. Holmes, dann wird serviert. Bis dahin müssen Sie sich noch ein wenig gedulden.“
Ich seufzte gespielt dramatisch, worauf Mrs. Hudson abermals kicherte und mit geschäftigen Schritten zurück in die Küche eilte. Ich jedoch machte mich auf den Weg nach oben in unser Wohnzimmer, wo die vertrauten Polstermöbel, das Chaos der Zeitungen und der unverwechselbare Duft von Tabak auf mich warteten.
Dort nahm ich Platz, warf einen Blick auf die Uhr und lauschte dem leisen Knistern des Kaminfeuers. Doch Holmes ließ auf sich warten. Eine halbe Stunde verging, dann eine weitere. Mein Magen knurrte unüberhörbar, und während draußen die Dämmerung die Straßen von London in ein graues Halbdunkel tauchte, saß ich allein und wartete – auf Holmes und auf Mrs. Hudsons Mahlzeit.
Kaum hatte ich mich ein weiteres Mal seufzend in den Sessel zurückfallen lassen, drang mein knurrender Magen abermals in mein Bewusstsein. Schließlich erhob ich mich und rief nach unserer Wirtin.
„Mrs. Hudson!“
Sie erschien fast sofort im Türrahmen, noch immer die Hände in der Schürze vergraben. „Ja, Herr Doktor?“
„Verzeihen Sie, aber ich wollte fragen, ob Sie vielleicht wissen, wo Holmes steckt. Sie sagten doch, er wolle um sechs Uhr hier sein – und inzwischen ist es längst über diese Stunde hinaus. Mein Magen protestiert lauter, als es ein Patient je wagte, und ich fürchte, wenn wir weiterhin warten, wird das Festmahl kalt, ehe es serviert wird.“
Mrs. Hudson schüttelte ratlos den Kopf. „Ich weiß es wirklich nicht, Sir. Er verließ das Haus am frühen Vormittag und meinte nur, er sei pünktlich zum Dinner zurück. Sehen Sie es mir nach – aber Mr. Holmes ist nicht immer ein Mann der Pünktlichkeit.“
Ich schnaubte und wollte gerade noch eine Bemerkung über Holmes’ oft eigensinnigen Zeitplan machen, da fuhr die Tür zum Wohnzimmer mit einem Ruck auf.
Ein breitschultriger Mann in der wettergegerbten Montur eines Seemanns stolperte herein. Seine Stiefel waren von Schmutz bedeckt, ein salzverkrusteter Schal hing ihm lose um den Hals, und auf der Stirn perlte Schweiß. Ohne auch nur ein Wort der Erklärung zu verlieren, warf er sich schwer atmend auf unser Sofa.
Sein Atem klang pfeifend, und für einen Augenblick glaubte ich, in seiner Brust ein ungesundes Rasseln zu hören.
Er lehnte den Kopf zurück und murmelte: „Endlich… ein Platz zum Ausruhen…“
„Aber das ist ja unerhört!“, rief Mrs. Hudson entsetzt und presste die Hand gegen ihr Herz. „In meinem Wohnzimmer! Was fällt Ihnen ein, Sir?“
Auch ich sprang auf. Mein erster Instinkt war, den Fremden zur Rede zu stellen, und zugleich versuchte ich, wie Holmes es mir gelehrt hatte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ein Seemann also, offenbar gerade von einer langen Fahrt zurückgekehrt, erschöpft und in diesem Zustand orientierungslos hier eingedrungen… Doch wie hatte er unser Heim gefunden? Und warum benahm er sich, als gehöre ihm die Welt?
Ich öffnete bereits den Mund, um dem Mann unmissverständlich klarzumachen, dass er in einem respektablen Haushalt keinerlei Zuflucht zu suchen habe, da brach der Fremde in schallendes Lachen aus. Mit einer raschen Bewegung riss er sich den falschen Bart aus dem Gesicht, wischte sich die Stirn und schob die Matrosenmütze aus seinem Gesicht.
„Nun, Watson“, rief er mit einem noch immer heiseren, aber unverkennbaren Ton, „Sie wollen ihren erschöpften Mitbewohner doch nicht wieder hinaus komplimentieren, oder?“
Ich starrte ihn ungläubig an. „Holmes?!“
„In der Tat“, erwiderte mein Freund und erhob sich mühsam. Sein Gesicht war blass, die Wangen eingefallen, die Kleidung verschlissen. Es war offensichtlich, dass er den Tag in einer jener finsteren Ecken Londons verbracht hatte, wo gewöhnlich keine ehrbaren Bürger verkehren. „Verzeihen Sie, Mrs. Hudson. Ich fürchte, meine kleine Maskerade hat Sie mehr erschreckt, als ich beabsichtigte. Doch glauben Sie mir – es war nötig.“
Mrs. Hudson war noch immer ganz empört, murmelte aber nur etwas von „unerhörten Methoden“ und zog sich dann kopfschüttelnd zurück. Ich indes musterte meinen Freund, kaum fähig, meine Überraschung zu verbergen.
Holmes sank schwerfällig in den Sessel zurück, während ich ihn noch immer ungläubig musterte. Sein Lächeln war matt, seine Augen lagen tief im Schatten, und er hustete heiser, als habe er sich die ganze Nacht in den Nebelschwaden der Themse herumgetrieben.
„Sie sind krank, Holmes“, stellte ich unverblümt fest.
„Bah, nichts weiter als eine leichte Erkältung. Eine Kleinigkeit. Es wäre töricht, daraus mehr zu machen, als es ist.“
„Eine Kleinigkeit?“, entgegnete ich scharf. „Ich habe Sie seit Tagen kaum gesehen! Sie verlassen das Haus um vier Uhr früh und kehren, wenn überhaupt, erst gegen zwei Uhr morgens zurück. Und nun sehen Sie sich an – erschöpft, blass, und mit einem Husten, der mir mehr sagt als alle Ihre Beteuerungen. Sie werden sich noch umbringen, Holmes. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich Sie ermahnen musste, eine Pause einzulegen.“
Holmes wollte etwas erwidern, doch ein erneuter Hustenanfall unterbrach ihn. Schließlich schüttelte er abwehrend den Kopf und griff nach seiner Pfeife, die er jedoch nach kurzem Zögern wieder zurücklegte.
„Nun, Watson, Sie haben recht – in gewisser Weise. Doch was hätte ich tun sollen? Ein Fall, der mich in die Docklands führte… ich kann nicht ins Detail gehen, ich habe mich schon zu sehr hinreißen lassen…“
Er senkte die Stimme und fuhr fast verschwörerisch fort: „Aber glauben Sie mir, hätte ich nicht bemerkt, wie viele Reiskörner im Seilstreuer einer Hafenschänke lagen, wäre dieser Fall niemals zu lösen gewesen.“
„Reiskörner?“ wiederholte ich verblüfft. „Um Gottes willen, Holmes – was haben Sie sich da wieder für Abgründe angetan?“
Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen, doch er schwieg und hüllte sich in seine typische Geheimniskrämerei. Ich aber konnte nicht verhindern, dass meine Sorge weiter wuchs.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Mrs. Hudson trat ein, balancierte ein großes Tablett in den Händen und stellte es mit resoluter Bewegung auf den Tisch.
„Da hätten wir’s“, sagte sie, während sie uns mit ihrem unvergleichlichen Blick musterte, der gleichermaßen streng wie mütterlich war. „Ein kräftiger Rinderbraten, dazu Yorkshire Pudding und Bratkartoffeln. Und für den Herrn Doktor zum Nachtisch seinen geliebten Apfelkuchen. Ich hoffe, das besänftigt Ihre knurrenden Mägen.“
„Mrs. Hudson“, rief ich erfreut, „Sie sind ein Engel!“
Holmes aber hob nur matt die Augenbrauen. Seine Hand zitterte leicht, als er den Löffel hob, und er schob den Teller bald von sich, unfähig mehr als zwei Bissen zu bewältigen.
Das Mahl war vorüber, und ich musste gestehen: Mrs. Hudson hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Der Rinderbraten war von jener Zartheit, die man nur bei ihr fand, der Yorkshire Pudding war goldbraun und luftig, und der Apfelkuchen zum Nachtisch hätte jedem Gasthaus Ehre gemacht.
„Mrs. Hudson“, sagte ich feierlich, „ich ziehe den Hut vor Ihnen. Ihre Kochkunst ist die reinste Wohltat für Leib und Seele.“
Sie lächelte bescheiden, während Holmes, der kaum mehr als zwei Bissen zu sich genommen hatte, schweigend den Kopf gesenkt hielt. Sein Husten hatte sich während des Essens verschärft, und der matte Glanz in seinen Augen beunruhigte mich zutiefst.
„Holmes“, begann ich mit der Autorität, die mir mein Stand als Arzt verlieh, „Sie gehen jetzt sofort zu Bett.“
„Mein lieber Watson“, erwiderte er schwach, aber mit jenem Anflug von Trotz, den ich nur zu gut kannte, „es gibt Dinge, die keinen Aufschub dulden. Ich habe Unterlagen zu sichten, und—“
„Genug!“ unterbrach ich ihn scharf. „Ich bin Arzt, und wenn es um Ihre Gesundheit geht, habe ich das letzte Wort. Sie sind krank, Holmes, und wenn Sie sich nicht schonen, riskieren Sie weit Schlimmeres als eine Erkältung. Ich verlange von Ihnen, dass Sie nun ins Bett gehen und schlafen. Morgen früh werde ich mich um Ihre Genesung kümmern.“
Holmes blickte mich lange an – sein Blick war ein Gemisch aus Widerstand, Müdigkeit und einem Anflug von kindlicher Kränkung. Schließlich seufzte er, erhob sich langsam und ging schweigend in sein Schlafzimmer.
„Gut so“, murmelte ich. „Endlich Vernunft.“
Kaum war die Tür hinter ihm geschlossen, erhob auch ich mich. Es stand fest: So konnte es nicht weitergehen. Noch nie hatte ich Holmes so gebrochen gesehen. Nicht der gefährlichste Verbrecher Londons hatte ihn je so mitgenommen wie sein eigener Körper. Wenn Holmes sich nicht selbst schonte, dann würde ich dafür sorgen. Ich hatte bereits eine Idee, wie ich seine Genesung erzwingen konnte – eine Reise, weit weg von den Nebeln der Themse, den Straßen von Whitechapel und den Schatten der Docks, sollte ihn retten – und ich schwor mir, dass er sich meiner Entscheidung nicht entziehen würde. Entschlossen griff ich nach meinem Mantel und verließ die Baker Street. Noch heute würde ich die ersten Vorbereitungen treffen.
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